Kinder an Klettergerüst
Er kämpft auch bei Nacht

Er kämpft auch bei Nacht

– Badische Zeitung

Seit 40 Jahren ist Wulf Schmidt im Einsatz für Menschen mit Behinderung. Als Vorsitzender der Lebenshilfe Südschwarzwald hat er viel in der Region bewegt. Foto: Liane Schilling

HOCHSCHWARZWALD. "Wir müssen da was tun", war der Leitgedanke einer Gruppe Gleichgesinnter, die sich vor mehr als 40 Jahren mit den Lebensbedingungen geistig behinderter Menschen im Hochschwarzwald auseinandersetzte und die Voraussetzungen für die Vereinsgründung der Lebenshilfe in Neustadt schuf.

Nur eine Frau in der Gruppe hatte einen behinderten Sohn, die übrigen Mitglieder der Initiativgruppe wollten uneigennützig die Lebensumstände von Behinderten im Hochschwarzwald verbessern. Bekannte Namen von mittlerweile verstorbenen Neustädter Bürgern nennt Wulf Schmidt, wenn er sich an die Anfänge erinnert. Gusta Keintzel und Ilse Staab bildeten den Antrieb der Initiative.

An der Gründungsversammlung nahmen 90 Personen teil, darunter der damalige Landrat Alfred Mallebrein, der ehemalige Bürgermeister Gallinger und Tom Mutters, der Niederländer, der 1958 die Bundesvereinigung der Lebenshilfe initiierte. Schon an diesem Abend wurden 50 Personen Mitglied des neugegründeten Vereins Lebenshilfe für geistig Behinderte, Kreisvereinigung Hochschwarzwald. Alle verfolgten ein Ziel – und dennoch wollte niemand den Vorsitz des Vereins übernehmen, erinnert sich Schmidt. Weshalb er es dann selbst tat – und nach 40 Jahren noch immer tut.

Die Gesellschaft wird bereichert.
Schmidt sieht die Behinderung jedes Einzelnen als "Sonderform der Individualität" und wollte die Situation von behinderten Menschen verändern, ihnen Förderung und Betreuung zukommen lassen. Außerdem ist es sein Anliegen, darauf aufmerksam zu machen, "dass diese Menschen Eingang finden müssen in die Gesellschaft, denn dadurch wird sie reicher".

Vieles konnte in den vergangenen 40 Jahren schon verändert werden, freut er sich rückblickend. Anfangs habe man sehr um die Akzeptanz ringen müssen, zahlreiche Gespräche mit Angehörigen, die ihre behinderten Familienmitglieder teilweise versteckten, waren nötig. Aber auch mit Arztpraxen, Ämtern und Behörden wurde um mehr Verständnis gerungen. Wulf habe Mediziner getroffen, die ihm erklärten, wie unnötig die Bemühungen des Vereines seien, weil die Medizin so rasant fortschreite, dass es in zehn Jahren keine Menschen mit Behinderungen mehr gäbe. Von "Augen zu machen" bis zu aktiver Abwehr, sei ihm in dieser Zeit alles begegnet.

Aber die Situation hat sich im Laufe der Jahre verändert. Wenn heute eine Gruppe Behinderter in die Eisdiele kommt, werden die Nachbartische nicht mehr schlagartig leer, freut sich Schmidt.

Es war eine langsame aber stetige Entwicklung. Immer wieder erinnerte der Verein daran, dass es Menschen mit Behinderung gibt und es sehr wertvoll ist, sich um sie zu kümmern. Heute wird etwa auf Barrierefreiheit geachtet, im Kino gibt es Rollstuhlplätze und die Kontakte zu Behinderten werden im Alltag mehr gepflegt.

Auf die Frage, woher er die Energie nimmt, sich über einen so langen Zeitraum mit solcher Kraft einzusetzen, erklärt Schmidt, nicht einfach stets der sein zu wollen, der er geworden ist, sondern sich immer weiter verändern zu wollen. "Leben heißt werden, immer", sagt er. Er sah sich nie nur als Pauker, sondern pflegte stets viele Beziehungen außerhalb der Schule. Er war neugierig zu sehen, wie andere Menschen leben und stellte stets die Frage: "Wer sucht noch ein Ziel für sich?". So versuchte er die Menschen mit Behinderungen einzubinden und Verbindungen herzustellen. Wenn es gelingt, ist es eine Befriedigung, die wieder neue Kraft gibt, schildert er den Kreislauf.

Auch seine Frau, die sich stets um die hauswirtschaftlichen Belange und die Erziehung der vier Kinder kümmerte, ermöglichte ihm das Engagement, indem sie ihm Freiräume schuf. Die Familie wollte nie eingleisig leben, hielt Schafe und Ziegen, produzierte Butter und Käse, baute Gemüse an und war Selbstversorger.

Durch viele Aktivitäten entstand ein Netzwerk, so Schmidt, das auch für die Lebenshilfe nützlich war. Um neue Kraft zu entwickeln benötigte er nie viel Schlaf, berichtet er lächelnd. Vier Stunden reichen. Oft stellte er Nachtarbeit in den Dienst der Sache. Ein steter Kampf war die langfristige Finanzierung der Projekte. Um sich gegen Widerstände zu stemmen, auch wenn es aussichtslos erschien, motivierte er sich stets aufs Neue. Es galt kämpferisch aufzutreten und Lösungen zu finden. Auch dies es Ringen ermöglicht es ihm wieder neue Kraft zu schöpfen, denn es ist "eine Auflehnung gegen etwas das so zu sein scheint, aber nicht so sein darf", sagt Schmidt. Er zieht das Fazit, dass mittlerweile auch bei den Sponsoren ein Umdenken stattgefunden habe und man daher optimistisch an neue Veranstaltungen herangehen könne.

Vom kleinen Verein zum großen Arbeitgeber


Mit ausschließlich ehrenamtlicher Arbeit hat der Verein begonnen, die Treffen und Sitzungen fanden in den Wohnzimmern der Vorstandsmitglieder statt, erinnert sich Schmidt. Die ersten Angestellten waren die Erzieherinnen des Kindergartens auf der Allmend. Mittlerweile hat die Lebenshilfe im Hochschwarzwald rund 150 Mitarbeiter, eine Geschäftsstelle und eigene Fahrzeuge. Das stellt den Vorsitzenden des Vereins und den Geschäftsführer vor neue Herausforderungen. So ist darauf zu achten, dass die Arbeitsbedingungen vernünftig bleiben und niemand ausgebeutet wird. Denn die Freude am Beruf darf nicht verloren gehen, wünscht sich Schmidt. Die Finanzierung der Löhne bei steigender Mitarbeiterzahl, sowie der neuen Aufgaben und Projekte ist mittlerweile ehrenamtlich nicht mehr zu leisten. Der hauptberufliche Geschäftsführer holt daher die Informationen ein, erbringt die Vorarbeit und präsentiert diese in regelmäßigen Sitzungen mit dem Vereinsvorstand, ehe die Entscheidungen gefällt werden.

Teilhabe statt Ausgrenzung


Zu Schmidts Zukunftszielen für den Verein gehört der Weg "von der Exklusion über die Integration zur Inklusion, soweit das sinnvoll und machbar ist, aber nicht um jeden Preis". Zwar wünscht sich Schmidt noch mehr Bewusstsein für andere Menschen in der Gesellschaft und noch mehr Interesse am Grundsatz der Chancengleichheit. Er sieht aber auch dass die Einbeziehung Behinderter beispielsweise in die Normalklasse einer Gesamtschule nur mit sehr viel Fingerspitzengefühl, großem Kostenaufwand und eventuell nicht immer zum Vorteil aller zu verwirklichen ist. Seine Aufgaben als Vorsitzender will er ausüben, solange er dies kann. Gleichzeitig möchte er aber jüngere Menschen für diese Aufgabe begeistern, und es in die Wege leiten, dass seine Nachfolge gesichert wird.

"Als Fels in der Brandung", erlebte der Geschäftsführer Uli Pfeiffer seinen Vorgesetzten Schmidt, während der Zusammenarbeit in den vergangenen zehn Jahren. "Man kann sich auf ihn verlassen, egal was anliegt, ob es schwierig oder kriselig ist", sagt er. Auch einen Fehler einzugestehen, sei keine Schwierigkeit, so Pfeiffer. Das Vertrauensverhältnis zwischen Schmidt und seinen Mitarbeitern sei sehr groß. Wenn noch etwas gebraucht werde, klingle er auch schon mal an der Haustür in Rötenbach. "Diese Form der Zusammenarbeit gibt mir Kraft", lobt Pfeiffer seinen Chef.
Die Lebenshilfe

1972 Gründung der "Lebenshilfe für geistig Behinderte e.V., Kreisvereinigung Hochschwarzwald" in Neustadt. Zweck: Deckung des Bedarfs an Kindergartenplätzen für Kinder mit Behinderung

1975 Eröffnung des Sonderschulkindergartens in den Räumen der Allmend-Schule in Neustadt

1980 Schließung des Schulkindergartens; erste Sommerfreizeit

1983 Erster Elternstammtisch; erste Diskoveranstaltung für Menschen mit und ohne Behinderung

1984 Gründung des ersten Freizeitclubs für Menschen mit Behinderung

1986 Einrichtung der ersten Geschäftsstelle in Neustadt. Eine Geschäftsführerin in Teilzeit wird als erste hauptamtliche Mitarbeiterin angestellt.Einrichtung des "Familienentlastenden Dienstes"

1988 Wiedereröffnung des Schulkindergartens in den Räumen der Allmend-Schule in Neustadt

1990 Umzug der Geschäftsstelle in die Stalterstraße in Neustadt

1992 Erstes Dienstfahrzeug; Lebenshilfe wird anerkannter Betreuungsverein

1996 Die Lebenshilfe hält zum ersten Mal drei Kinderfreizeiten ab

2004 Einzug des Kindergartens in die neuen Räume im Ahornweg

2006 Umzug der Geschäftsstelle von der Stalterstraße in die Wilhelm-Stahl-Straße

2008 Genehmigung der dritten Gruppe im Kindergarten Regenbogen

2009 Eröffnung einer Kindergartengruppe als inklusives Angebot in Zusammenarbeit mit dem Kindergarten Pfiffikus in Neustadt; Fusion Lebenshilfe Hochrhein mit Lebenshilfe Hochschwarzwald  

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