Kinder an Klettergerüst
Mein Sohn ist ein Kämpfer

Mein Sohn ist ein Kämpfer

– Südkurier

Daria Estrefoski (31) aus Horheim und ihr Mann haben zwei Söhne und eine Tochter. Der jüngere Sohn ist schwerst mehrfach behindert. Die Mutter spricht darüber, wie es ihm heute geht und welche Unterstützung die Familie hat.

Auf einen Kaffee mit… Daria Estrefoski (31) aus Horheim. Sie spricht über ihr Leben mit einem schwerst mehrfach behinderten Kind.

Frau Estrefoski, Sie sind verheiratet, haben zwei Söhne und eine Tochter, der fünfeinhalbjährige Malik ist schwerstbehindert. Wie sieht Ihr Alltag aus?

Said geht in die zweite Klasse, Malik in den Wutachkindergarten für körperbehinderte Kinder. Er wird morgens mit dem Bus abgeholt und mittags wieder gebracht. Mein Mann ist selbstständiger Bäckermeister in der Bäckerei Preiser in Tiengen und arbeitet. Ich bin mit dem Baby momentan zuhause und mache einen Tag die Woche das Büro. Zwei Tage die Woche kommt der Opa, um mit unserem großen Sohn zu spielen. Für Malik haben wir drei Damen von der Lebenshilfe und zwei vom Pflegedienst.

Wie geht es Malik?
Malik hatte einen Schlaganfall noch vor der Geburt. Durch den Sauerstoffmangel kam er zu 100 Prozent schwerstgehindert zur Welt. Er ist blind und hörgeschädigt, er kann nichts allein machen. Wir legen ihn hin, wie es für ihn bequem ist, setzen ihn in einen speziellen Sessel, füttern ihn. Flüssigkeit und Medikamente bekommt er über eine Sonde. Er ist wie ein drei Monate altes Baby, nur größer und schwerer. Um 7.15 Uhr wird er geweckt, gewickelt, bekommt seine Medikamente. Das übernehme ich.


Wer kümmert sich um die beiden anderen Kinder?
Ich frühstücke mit dem Großen, er ist schon sehr selbstständig. Aber natürlich sehe ich zu, dass er ordentlich aus dem Haus geht. Die Kleine schläft gern lang, meistens, bis die Brüder aus dem Haus sind. Hanan ist jetzt neun Monate alt, sie wog bei der Geburt 630 Gramm, auch das war eine Herausforderung. Ich war anfangs mit ihr im Spital. Malik musste ganz kurzfristig ins Kinderheim. Die Sonnenhalde in Görwihl hat uns in dieser Notlage sehr geholfen und Malik aufgenommen. Mein Schwiegervater ist für mehrere Wochen aus Esslingen zu uns gekommen und wir hatten eine Dorfhelferin. Nach fünf Wochen im Spital habe ich es dort nicht mehr alleine ausgehalten und bin dann täglich nach Lörrach gefahren. Freitags haben wir Malik heimgeholt und montags wieder in den Kindergarten gefahren, von dort ist er wieder in die Sonnenhalde. Die Situation war anstrengend, aber Gott sei Dank gab es viele helfende Hände. Nach drei Monaten durfte Hanan heim, und auch Malik wohnte dann wieder bei uns.

Welche Unterstützung haben Sie tagsüber?
Malik wird in den Kindergarten gebracht. Dienstags holt ihn jemand von der Lebenshilfe ab, fährt mit ihm zur Physiotherapie nach Laufenburg. Das ist für mich eine enorme Erleichterung, da muss man schon zwei Stunden einplanen. Gerade im Winter, sind die „Mädels“ – so nenne ich die Damen von der Lebenshilfe – froh, dass sie etwas zu tun haben. Sie können sich mit Malik ja nicht unterhalten.

Wie wissen Sie, wie es ihm geht?
Wir sehen schon deutliche Reaktionen, Weinen und Lachen. Malik weint aber selten. Er liebt die Geschwindigkeit, das kann man sehen. Er braucht starke Reize von außen, Lichteffekte im Schwarzlichtraum zum Beispiel, das kann einem gesunden Gehirn leicht zu viel werden. Sonne und Hitze, das liebt er. Sein Körper ist sein größtes Wahrnehmungsorgan. Manchmal merkt man, wenn man ihm Medizin gibt, dann schüttelt er sich, das sind dann aber bittere Sachen. Hörgeräte haben viel verbessert.

Sie erwähnten eine Delfintherapie in der Türkei für Malik. Wie war das?
Wir sind mit der ganzen Familie hingefahren. Das war ein ganz normaler Urlaub, einmal am Tag hatte Malik Therapie. Er hat drei Neoprenanzüge gebraucht, das Wasser hat 18, 19 Grad. Für ein Kind, das sich nicht bewegt, keine Spannung im Körper hat, ist das Anziehen eines solchen Anzugs ungeheuer schwierig. Bei der Therapie geht es vor allem über Berührung, Hände und Füße des Kindes werden auf den Delfin gelegt, sein Betreuer ist mit Malik auch durchs Becken geschwommen.

Wie hat Malik auf die Therapie reagiert?
Ich war am Anfang skeptisch, aber am letzten Tag hat Malik laut gelacht. Ich denke, bei Vielem im Leben ist es entscheidend, was ich erwarte. Darauf baut sich dann alles auf, ob es gut oder schlecht wird. Mit so einem Kind darf ich nicht erwarten, dass es mit dem Rucksack auf der Schulter zur Schule läuft. Für mich wäre es schon großartig, wenn er nicht krank wird. Orts- und auch Personenwechsel sind für ihn ganz schwierig. Wir hatten noch keinen Urlaub, in dem Malik nicht schwerst krank geworden ist. Er kann sich ganz schlecht auf Ortswechsel einstellen. Wenn er von der Delfintherapie so profitiert, dass er nicht krank wird, dann ist der Urlaub schon gelungen. Er hat gelacht von dem Moment an, als wir aus dem Flugzeug ausgestiegen sind.

Zu Hause haben Sie Unterstützung durch Damen der Lebenshilfe.
Ja, Gisela Sutter ist schon seit drei Jahren bei uns, Martina Duttlinger fast zwei Jahren. Eine Studentin kommt in den Ferien. Unter der Woche kommen sie am Dienstag- und Freitagnachmittag um Malik. Sie gehen mit ihm spazieren, er ist gern in der Natur, sie gehen mit ihm zur Therapie, zum Schwimmen, und bringen ihn dann ins Bett. Es gibt eine Whatsapp-Gruppe, wo ich auch kurzfristig einmal fragen kann, ob sich jemand um Malik kümmern kann. Wenn jemand Zeit hat, dann freue ich mich, dass ich etwas unternehmen kann. Wenn niemand Zeit hat, dann ist das für mich auch okay. Ich ärgere mich nicht, sondern sage mir immer, dann hat es nicht sein sollen. Entweder nehmen wir Malik dann mit oder verzichten. So lebt es sich viel entspannter.

Wie haben Sie es geschafft, Malik so in das Familienleben zu integrieren?
Wir haben auf viel verzichtet. In seinem ersten Lebensjahr war er viel im Krankenhaus, mit mir zusammen. Da war der Große schon eineinhalb. Manchmal ist er morgens aufgewacht, und die Mama und der Bruder waren nicht mehr da. Weil Malik nachts Fieber und Atemnot hatte. Ich war ja erst 25, als er auf die Welt kam und hatte keinerlei Erfahrung mit einem kranken Kind. Nach seiner Geburt im März hat er bis Oktober 24 Stunden am Stück geschrieen. Mein Mann und ich haben uns abgewechselt. Er war bis in die Nacht für ihn da, musste dann in die Backstube. Im Oktober hatte ich das Gefühl, ich kann nicht mehr. Meine Mutter hat Malik genommen, als ich sie darum gebeten habe. Ich glaube, das hat uns gerettet. Wir konzentrieren uns mittlerweile auf das, was Malik kann, wie lachen oder essen. Er sagt oder denkt über niemanden ein schlechtes Wort, er lästert nie, denn jeder ist sein Freund und wir sehen, wie er die Herzen von ganz vielen Menschen öffnet. Das sind doch tolle Eigenschaften!

War Ihnen nach der Geburt gleich klar, dass er schwerstbehindert ist?
Die Ärzte haben mir gesagt: Ihr Kind wird sich anders entwickeln. Das war vielleicht die schonende Art und Weise, uns zu informieren. Meinem Mann war klar, was die Ärzte damit sagen wollten. Meine Reaktion war eine andere: Was soll denn „anders“ bedeuten, jedes Kind ist doch anders als andere. Mein Sohn ist ein Kämpfer. Drei Mal war es nicht sicher, ob er überlebt. Nach der zwölften Lungenentzündung haben wir aufgehört zu zählen. Wir haben oft gesagt: Malik will leben. Keiner wäre ihm böse gewesen, wenn er hätte gehen wollen. Jeder wäre traurig gewesen, aber jeder hätte es verstanden. Wenn er einfach nicht mehr gewollt hätte.

Wie sehen Sie die Zeit im Rückblick?
Heute ist mir klar, dass ihm alles zuviel war. Er hatte nur Schmerzen, war an Schläuche angeschlossen, war nach der Geburt weg von der Mutter. Ich glaube, das würde jedes Kind verstören. Damals habe ich das nicht so gesehen. Womit haben wir das verdient, habe ich gedacht. Als Malik bei meiner Mutter war, konnten wir uns innerlich ein bisschen beruhigen. Danach ging es Stück für Stück besser.

Wie geht es Malik heute?
Er ist Epileptiker und muss schwere Medikamente nehmen. Zum Glück ist er gut eingestellt, sodass er keine größeren Anfälle hat.

Wie wurden Sie auf die Lebenshilfe aufmerksam?
Wir haben eine Bekannte, die an der Wutachschule arbeitet. Schon kurz nach Maliks Geburt hat sich uns Schritt für Schritt vorbereitet, dass er einmal dort in den Kindergarten gehen wird. Es gab Gespräche beim Jugendamt, was es für Hilfen gibt, den Familienunterstützenden Dienst beispielsweise. Die Lebenshilfe sucht Helferinnen, kümmert sich um die Abrechnung. Anfangs kamen sie acht Stunden pro Woche, dann zwölf Stunden, jetzt sind es 18 Stunden, nur von der Lebenshilfe. Die Damen sind Krankenschwestern, sie übernehmen auch einmal eine ganze Woche. Wir waren schon mit den beiden anderen Kindern im Urlaub. Wir möchten die Helferinnen nicht missen.

Wer informiert die Eltern über Hilfen und finanzielle Unterstützung?
Man muss sich als Eltern über das Gesundheitssystem informieren. Da kommt viel zusammen: Die Schocksituation der Geburt, war gar nicht absehbar. Mein Mann hat die Bäckerei umgebaut zu der Zeit, wir hatten mit der Geburt noch gar nicht gerechnet. Der große Sohn war vier Wochen bei der Oma. Wir haben bei unserer Tochter, die zu früh auf die Welt gekommen ist, viel Hilfe bekommen, bei Malik war das nicht so. Ich wusste nichts von einem Pflegedienst. Ich würde mir wünschen, dass Kinderärzte mehr auf Hilfen aufmerksam machen. Bei uns wurde eine Physiotherapie empfohlen. Das war schon schwierig, Wir waren ganz allein in Waldshut-Tiengen. Heute ist mir klar, dass bei mir ein Schutzmechanismus eingesetzt hat, ich musste einfach meine Pflicht tun. Als Malik drei war und in den Kindergarten kam, war mir klar, ich wollte ein drittes Kind.

Dieses Baby haben wir jedoch im vierten Monat verloren. Danach wollten wir keine Kinder mehr. Hanan war eine kleine Überraschung. Ich habe erkannt: Das Glück fängt in mir an, indem ich akzeptiere, dass es ist, wie es ist. Wir haben ein Haus gekauft, und wir haben nach zwei Jungen unsere Prinzessin bekommen.

Wie leben Sie heute?
Beim Großen hat sich viel verändert. Er kümmert sich lieb um seine kleine Schwester und wendet sich auch Malik mehr zu. Er ist sehr sozial eingestellt. Ich versuche, dem Großen zu erklären, was mit seinem Bruder ist. Said geht damit unbefangen um. Vielleicht kommt das noch, dass er reden kann, wenn er in die Schule kommt, hat er einmal gesagt. Malik ist ein voll integriertes Familienmitglied. Malik ist anders. Er ist eben so, wie er ist. Wir waren gerade in einem Kinderhotel in Österreich und haben auch Malik dort in die Betreuung abgegeben. Ich fand es sehr schön, wie die Betreuerinnen und auch die Kinder auf Malik zugegangen sind und ihn ins Herz geschlossen haben. Klar mussten wir alle möglichen Fragen der Kinder beantworten, aber ich denke, dass wenn man offen damit umgeht und keine Scheu zeigt, dann ist es auch für die Menschen um einen herum einfach normal, dass es behinderte Menschen gibt, und dass sie genauso lieb sind wie andere auch. Said hat immer gesagt: „Malik hatte einen Schlaganfall und jetzt ist er halt behindert!" So einfach kann die Welt sein.


Fragen: Uthe Martin

Zur Person

Daria Estrefoski (31) ist verheiratet und hat drei Kinder, Said (7), Malik (fünfeinhalb) und Hanan (neun Monate). Sie macht für die Bäckerei ihres Mannes in Tiengen die Büroarbeiten.

Neue Kurse

Die Lebenshilfe Südschwarzwald bietet im Herbst wieder Kurse für Freiwillige an: Kinästhetics-Grundkurs: Mittwochs: 5., 12., 19. und 26. Oktober, jeweils von 9.30 bis 13.30 Uhr. Kinästhetics-Aufbaukurs: jeweils von 14 bis 18 Uhr. Der Kurs findet in Tiengen statt.

Kurs „Erste-Hilfe am Kind“: Mittwoch, 16. November, 8.30 bis 16 Uhr in Lauchringen.

Für das Frühjahr 2017 sind geplant: „Kommunikation auf Augenhöhe“ – hier werden die Grundlagen wertschätzender Kommunikation erarbeitet und eingeübt. Der Kurs besteht aus drei Blöcken à drei Stunden und wird voraussichtlich in Tiengen stattfinden. Die Kurse stehen externen Personen offen, sofern sich von der Lebenshilfe nicht genügend Teilnehmer melden werden. Die Kurse werden jährlich angeboten, so dass Interessenten, die dieses Jahr eventuell keinen Platz mehr bekommen, für 2017 vorgemerkt werden.

Weitere Informationen bei: Eva Fehrenbach-Otto, Persönliche Angebote Landkreis Waldshut, Lebenshilfe Südschwarzwald, Telefon 07741/96 57 277, Zeppelinstraße 2, 79761 Waldshut-Tiengen.

E-Mail: e.fehrenbach-otto@lebenshilfe-ssw.de

Online: www.lebenshilfe-ssw.de

 

Zurück